Fortsetzung von  Teil 1  und  Teil 2

Es funktionierte noch nie ohne Selbstorganisation

Das Grundprinzip jeder agilen Methode besteht in verantwortungsvoller Selbstorganisation. Der erfolgreiche Einsatz dieser Methoden zeigt: Ohne diese mündige Form der Selbstorganisation ist Komplexität nicht auf humane Art zu bewältigen.

In großen Teilen des Managements trifft man jedoch auf Vorbehalte, wenn es heißt, dass Mitarbeiter plötzlich Entscheidungen treffen sollen, für welche man vorher noch selber zuständig war. Oder es wird befürchtet, dass nun jeder „mitquatschen“ darf. Die einfache Einsicht besteht jedoch darin zu anzuerkennen, dass Management als funktionale Aufgabe weiterhin gebraucht wird – aber auf ganz anderen Bedeutungsebenen. Es muss dieser „neuen Autorität“ gelingen, Hierarchie (Verantwortung) und Selbstorganisation (Freiheit) in Einklang zu bringen.

Intelligente Organisationen

Hier kommt das Modell für lebensfähige Systeme (Viable System Modell, VSM) von Stafford Beer ins Spiel, denn dieses Modell legt das normalerweise verborgene Informationssystem offen, welches ohnehin in jedem (mehr oder weniger) erfolgreichen Unternehmen wirksam ist. Es stellt sich daher nicht die Frage ob solche Unternehmen lebensfähig sind, denn das sind diese ja offenkundig, doch es ist zu fragen, zu welchem Preis ein System sich selbst erhalten kann.

Die Prinzipien des VSM zeigen auf, warum Entscheidungskompetenz und Verantwortung verteilt werden muss. Besonders im Umfeld der Wissensarbeit bedeutet dies für das Management die mentalen Rahmenbedingungen zu schaffen, in welchen die Wissensarbeiter ihre Potenziale entfalten können. Eigentlich könnte man heutzutage auch von Denkarbeitern sprechen. Die brauchen natürlich auch Wissen, aber vor allen Dingen brauche diese Anschluss an eine „kollektiv-individuell-denkende“ Weisheit, um die wirklich großen Problem gemeinsam zu auflösen.

Die grundsätzlichen Elemente eines lebensfähigen Systems hat Stafford Beer folgendermaßen definiert:

  • Wertschöpfung/teilautonome Operation
  • Regulation/Koordination der Selbstorganisation
  • Synergie/Optimierung der Selbstorganisation
  • Audit/Erkennen interner Anomalien
  • Strategie/Erkennen externer Chancen und Risiken
  • Normen/Ethos, Werte, Glaubenssystem
  • Schmerz/Lust-Sensoren inkl. schneller Signalübertragung

Macht neu definieren

Die Systematik des VSM hilft Führungskräften, die Entscheidungskompetenzen und Verantwortungen systematisch und bewusst an jene Stellen innerhalb der Organisation zu übertragen, die aufgrund ihrer spezifischen Fähigkeiten und Kenntnisse optimal für die Lösung der jeweiligen Aufgaben geeignet sind. Durch die Verteilung von Macht entsteht in lebensfähigen Organisationen ein eigentümlicher Effekt: Diese Umverteilung von Kompetenz und Verantwortung an die „richtigen“ Stellen entlastet das Gesamtsystem, da jeder Mitarbeiter (= Denkarbeiter) sein Wissen und seine Fähigkeiten in verantwortungsvoller Weise im Hier und Jetzt einbringt. Die Intelligenz des Systems wird erschlossen – Hierarchie und Heterarchie stehen in einem sinnvollen Verhältnis.

„Die Wertschöpfer und Unterstützer der Wertschöpfer müssen verstehen, warum es bestimmte Aufgaben gibt. Dann können sie zusammenwirken, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.“

Das Viable System Model nach Stafford Beer

(Stark vereinfachte Darstellung des VSM

Die Vorteile einer lebensfähigen Organisation

Eine Grundvoraussetzung für Lebensfähigkeit ist Anpassungsfähigkeit. Erfolgreiche lebensfähige Organisationen erkennt man unter anderem an ihrer Fähigkeit zu Lernen. Nicht-Lineare Umgebungen erfordern heutzutage Führungsprinzipien, welche die Veränderungsfähigkeit der gesamten Organisation fördern, um in einer komplexen Welt nicht nur bestehen, sondern nachhaltig prosperieren zu können. Des Weiteren sei auch eine höhere Krisenresistenz erwähnt, die es dem System erlaubt „sich selbst zu heilen“.

Das alte Change-Management wird obsolet

Mit Hilfe der Informationsarchitektur des VSM ist es möglich die Stärken und Schwächen einer Organisation systematisch zu untersuchen und die normalerweise „unsichtbaren“ Wirkgefüge sichtbar werden zu lassen. Wer sich diese Erkenntnisse zu Nutze macht, kann die realexistierende Komplexität besser bewältigen, da man nicht mehr damit beschäftigt ist viele kleine Teilprobleme zu lösen und weitere Insel-Lösungen zu schaffen – die im Zweifel die interne Komplexität noch weiter steigern!

Stattdessen ist es möglich die relevanten Stellschrauben zu erkennen und diese in einem unendlichen Iterationsverlauf parallel aufeinander abzustimmen, um die größtmögliche Wirkung im Hinblick auf das Ganze zu erzielen. Das bedeutet für das tradierte Management in erster Linie die Chancen von Selbstorganisation zu begreifen. Denn eine funktional-kontextuelle Hierarchie und die lebensnotwendige Selbstorganisation müssen ins Gleichgewicht gebracht werden, um all den Anforderungen einer komplexen Welt gerecht zu werden.

Wir stehen hinsichtlich der digitalen Transformation erst am Anfang und die Komplexität wird weiterhin eine große Herausforderung darstellen; Unternehmen brauchen mehr denn je die Eigenschaften einer lebensfähigen Organisation. Je länger wir aber im Hafen als Nichtschwimmer zögern, umso stürmischer und unberechenbarer erscheint uns die hohe See – wir kennen sie nur vom Hörensagen. Wenn wir aber endlich Schwimmen lernen, eine grobe Karte zur Orientierung und eine ertüchtigte Mannschaft an Bord haben, dann erscheinen die Wellen doch nicht mehr so hoch. Und auf einmal kann das Navigieren durch die Komplexität sogar Spaß machen.

Ende